Gemeinsam mit Nancy stürzte sich Caen Ende der 1990er Jahre in das Abenteuer "TVR": Transport sur voie réservée, ein elektrischer Spurbus, geführt durch eine Mittelschiene, auf die ein Führungsrad im Bus drückt.
Das System wurde für beide Städte zum Fiasko, nach nur 15 Jahren entschied sich Caen, die Strecken auf klassische Straßenbahn umzubauen. Am 31.12.2017 verabschiedete man die Spurbusse, und bereits am 27.7.2019, nur eineinhalb Jahre später, wurde das neue Straßenbahnnetz mit immerhin 16 Kilometern Länge eröffnet! Die Hauptstrecken folgen dabei genau der alten Busbahn, nur ein neuer Zweig in das Stadtentwicklungsgebiet Caen-Presqu'île kam noch dazu.
In einer Umfrage konnten sich die Bewohner für ihr Lieblingsdesign entscheiden - gewählt wurde der Vorschlag 3, elegante graue Züge mit futuristischer Front.
Das neue System ist schlicht, aber solide, die Bauweise wie in Frankreich üblich sauber, wenngleich auf architektonische oder künstlerische Highlights verzichtet wurde. Etwa die Hälfte der Strecke ist in Rasengleis (ohne Bewässerungsanlage) ausgeführt, bei meinem Besuch war das wegen der vorangegangenen Hitzeperiode und dem vorgezogenen Eröffnungstermin allerdings teilweise noch nicht begrünt. Etwas überrascht haben mich die starken Steigungen, die aber von den Alstom X05 mühelos bewältigt werden. Negativ fallen die (zu) wenigen Parallelweichen auf; die Endstationen im Norden sind mit einem einzigen Bahnsteiggleis ohne der Möglichkeit, Züge zur Seite zu nehmen, unterdimensioniert. Bei meinem Besuch standen gleich zwei Mal wartende Züge vor der Station, ohne die Möglichkeit, Passagiere aussteigen zu lassen - trotz eines Planintervalles von 10 Minuten! Auch die Endstation "Château-Quatrans" im Stadtzentrum bietet nur Platz für einen Zug, darüber hinaus sind die Weichen unnötig eng, die durchgehenden Züge müssen sich über den abbiegenden Strang quälen.
Auch sonst ist das System noch nicht optimal justiert: häufige Bremsungen fast bis zum Stillstand vor völlig nebensächlichen ampelgedeckten Garageneinfahrten, zögerliche Betriebsabwicklung, sehr gemächlicher Betrieb; normale Geschwindigkeiten werden nicht allzu oft erreicht. All das resultiert in teilweise unregelmäßigen Intervallen. Die zu sparsame Anlage bedeutet leider auch, dass es oft keinen Platz für eine spätere Verlängerung der Bahnsteige und damit der Züge gibt; wenigstens bei den eingleisigen Endstationen ist aber ausreichend Fläche für ein "Upgrade" vorhanden. Ich gehe aber davon aus, dass sich die Ampelsteuerungen und der gesamte Betrieb erst noch einspielen muss, und auch die eine oder andere Weiche sind ja schnell mal eingebaut.
Hat man im Netz bei betrieblich sinnvollen Weichen gespart, liegt aber bereits eine Abzweigung bei der Station Bernières als Vorleistung für eine spätere Strecke nach Westen. Baubeginn für diese vierte Linie soll 2025 sein. Die Verlängerung wäre wünschenswert, schon die 1937 stillgelegte erste Straßenbahn besaß eine Ost-West-Achse, und Caen scheint tatsächlich entschlossen, diese Linie umzusetzen. Auch Verlängerungen der bestehenden Linien sind gewünscht.
Die neue Straßenbahn von Caen dürfte das vorläufig letzte größere neue System sein, das in Frankreich entsteht; politische Richtungsänderungen und Geldknappheit haben Sand ins Getriebe gebracht. Die Stadt Nancy, die ab 2021 dem Beispiel Caens folgen wollte und ihren gescheiterten Spurbus ebenfalls auf den Schrottplatz schickt, hat das Tramwayprojekt abgesagt; wie sich Clermont-Ferrand weiter entwickelt, wird die Zukunft weisen. Ansonsten gibt es derzeit zwar in manchen französischen Städten Linienverlängerungen und kleine Netzerweiterungen, die große Renaissance der französischen Tramway scheint aber weitgehend abgeschlossen.
Alle Viennaslide-Fotos zur Tramway von Caen
"Gescheiterte Visionen" - eine Übersicht zum Problem der französischen Spurbusse (PDF)
Hier der Netzplan vorher/nachher zum Vergleich
Die offizielle Seite der Netzerweiterungen
"Twisto" in Caen (offizielle Seite)
Die Zukunft der Städte, Seite 161
Lage in Frankreich
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Letzte Änderung: 14.4.2023