Kopenhagen - Hygge oder Highway?

Architektur, Design und eine Verkehrsplanung, die das Fahrrad ins Zentrum stellt – das sind die Aushängeschilder, mit denen Kopenhagen in den letzten Jahren von sich reden machte. Aber was steckt wirklich hinter dem Schlagwort "Copenhagenize"?

In den 1960er-Jahren begannen die Träume der autogerechten Stadt auch in Kopenhagen. 1958 tauchte mit dem „Søringen“ ein desaströses Stadtautobahnprojekt auf, das einen Straßenring entlang der vier Stadtseen vorsah – eine unglaubliche Idee, die das Naherholungsgebiet und heute begehrte Wohnviertel vernichtet hätte. Glücklicherweise konnte es abgewendet werden, aber innerstädtisch waren bereits Gebäude abgerissen und bestehende Zulaufstraßen verbreitert worden; bis heute ist das Zentrum von überdimensionierten Asphaltflächen dominiert. Damals eliminierte der Bürgermeister Urban Hansen das durchaus moderne Straßenbahnnetz. Die Ölkrise setzte dem Autowahn 1973 ein Ende. Dann entstand eine massive Grassroots-Bewegung, zusammen mit dem Radfahrerverband wurde auf die Politik Druck ausgeübt, und ab den frühen 1980er Jahren begann die Anlage von separierten Fahrradspuren entlang der großen Boulevards. 2001 veröffentlichte die Stadt ihr erstes Fahrrad-Strategiepapier.


Autowahn: das wertvolle Naherholungsgebiet der Stadtseen wäre ebenso mit Autobahnen zerstört worden wie das heute lebendige Schlachthofviertel

Die Auflassung der Straßenbahn 1972 – noch bis 1966 waren 100 neue Düwag-Gelenkwagen angeschafft worden – ist bis heute ein fühlbarer Verlust. Die Busse verkehren auf den Boulevards teilweise ohne Busspuren, die Knotenpunkte wie am Hauptbahnhof sind unübersichtlich, laut und unangenehm.

Das Tramwaydepot in Norrebro wurde zu einem Veranstaltungszentrum im berühmten Park "Superkilen"

2002 startete der Betrieb der ersten Metrolinie als Ost-West-Durchmesser, nach der Innenstadtquerung wendet sich die Trasse nach Süden und erreicht in zwei Ästen den Flughafen und das Stadtentwicklungsgebiet Ørestad, beide auf der Insel Amager. Seit Herbst 2019 ergänzt eine Ringstrecke das Netz, 2020 kam noch eine kurze Abzweigung zum Nordhafen dazu; zusammen mit der bestehenden S-Bahn erschließt dieses Grundnetz nun den inneren Stadtbereich, die Fußwege bleiben aber weiterhin relativ lang, auch wegen der tief liegenden Stationen. Die Fahrgastinformation ist auffallend schlecht, die Stationsschilder sind aus dem Zug schlecht zu sehen, Umgebungs- oder Liniennetzpläne fehlen.

Die Hauptlast des Vorortverkehrs trägt die S-Bahn. Bemerkenswert an den Zügen des „S-Togs“ ist das sehr breite Wagenprofil, das durch kurze Einzelwagen mit geringer seitlicher Kurvenauslenkung realisiert werden konnte: dem zweiachsigen Triebkopf folgen einachsige Module, die jeweils auf das Vorgängermodul aufsatteln. Die breiten Wagenkästen ermöglichen 3+3-Bestuhlung sowie bequeme Fahrradabteile, die 4- oder 8-teiligen Gliederzüge sind durchgängig. Die Fahrzeuge sind allerdings schlecht gepflegt und vollgeschmiert.

Inzwischen weltbekannt ist aber die Fahrradfreundlichkeit der Stadt, und tatsächlich spürt man, dieses Verkehrsmittel wird hier ernst genommen. Allerdings scheint es, dass sie vor Allem zu Lasten der Fußgänger und möglichen Grünstreifen gehen, die MIV-Fahrbahnen wirken weit überdimensioniert, Bäume fehlen überall. Aus diesen Radstreifen nach links abzubiegen ist unangenehm, üblicherweise erfolgt das indirekt per „Hook-Turn“ mit Aufstellung irgendwo zwischen den Fahrstreifen, also eher improvisiert. Auch ist die in Frankreich, Belgien und inzwischen sogar Österreich bekannte „Rechts-bei-rot“-Regel unbekannt, und an vielen großen Kreuzungen wird der Radverkehr mit der MIV-Rechtsabbiegespur gemischt – ein No-Go in den Niederlanden und wohl nur deswegen möglich, weil sich die Verkehrsteilnehmer generell rücksichtsvoll unterwegs sind.


Die oft gezeigte "Bicycle Snake" endet nach der schnellen Bergabfahrt in einer Mischfläche (oben)
Linksabbiegen ist meist improvisiert (unten links); Fußgänger bleiben oft auf der Strecke (unten rechts)


Warum schwärmen also so viele Verkehrsfachleute aus dem deutschsprachigen Raum so begeistert von dem Schlagwort „Copenhagenize!“? Wohl, weil die Stadt für den Radverkehr zwar mehr tut als die hiesigen Städte, den wirklichen Umbau aber ebenso scheut. Der Autoverkehr wird möglichst wenig eingeschränkt, die zu breiten Boulevards nicht rückgebaut, die Fahrradfreundlichkeit geht allzu oft zu Lasten der Fußgänger. Anders als in den Niederlanden, wo die Infrastruktur tatsächlich laufend perfektioniert wird und wirklich den Eigenheiten des Gesamtsystems Radverkehr angepasst wird, sieht die Radinfrasturktur in Kopenhagen so aus, wie sie auch hierzulande gebaut wird: Wirklich geändert haben sich die Straßen nicht, sie erhielten nur Fahrradspuren.

In den Niederlanden undenkbar: eine aufgemalte Radspur neben einer mehrspurigen Straße (links); die Straßenqerschnitte sind dem Autoverkehr angepasst, offensichtlich scheut man echten Umbau (rechts)

Kopenhagen ist damit tatsächlich ein Blick in die Zukunft unserer Städte, allerdings mit geradliniger Fortschreibung der aktuellen Konzepte anstatt echtem neu Denken, echtem Verständnis für die Bedürfnisse der sanften Mobilität, echtem Umbau zur menschenfreundlichen, nicht autozentrierten Stadt.


Kopenhagen: Hygge oder Highway? - Artikel in Forum Mobil (PDF)

Hier ist nicht alles grün, was glänzt - Artikel im Spectrum der Presse (PDF)

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Video: 5 Minutes Urbanism - Copenhagen (Mikael Colville-Andersen)


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Letzte Änderung: 21.2.2024