Lebensnerv im Straßenpflaster

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Wiener Zeitung, Beilage "Extra" vom 4.8.2000. Autor: Peter F.N.Hörz

Die gute alte Tramway und ihr Einfluss auf das urbane Erleben

Wien ist anders, lautet ein griffiger Slogan, der dem Stadt-Marketing entlehnt worden ist, und wenngleich dieser Sager nun schon durch allzu häufige Rekapitulation und durch zahlreiche Ironisierungen ein wenig abgegriffen klingt, so hat er doch eine gewisse Berechtigung. Denn in Wien ist manches anders gelaufen als andernorts in Europa. Manche Modernisierungsprozesse hat Wien einfach verschlafen, und so gibt es hier noch immer die kleinen Fachgeschäfte in den Gürtelbezirken, die schäbigen Vorstadt-Cafés und die billigen Beisln als Orte der lokalen Kommunikation. All dies Relikte einer Zeit, die im hyperdynamischen Frankfurt am Main oder im fashionablen Köln längst begraben worden sind. Weitgehend begraben worden im wahrsten Wortsinn ist in anderen Orten auch der schienengebundene öffentliche Verkehr, der sich in Wien - aller U-Bahn-Euphorie zum Trotze - noch immer zu einem guten Teil dort abspielt, wo die Stadt wirklich lebt: auf der Straße. Wien ist anders, das allseits geliebte, geflügelte Wort trifft also auch auf die Bahnen zu, in denen sich der Wiener Verkehr - zumindest der öffentliche - bewegt.

Es bimmelt die Elektrische

Denn während in Paris, London oder Westberlin die umfangreichen Straßenbahnnetze von der Bildfläche verschwunden sind, bimmelt hier noch immer die rot-weiße Elektrische durch die Stadt. Für amerikanische Touristen vor allem ein Gaudium, für Automobilisten aus der Provinz ein Schreckgespenst, sind die Straßenbahnzüge für die Wiener ein fixer Bestandteil des Alltagslebens. Ganz egal, ob man sie nun als Fahrgast nutzt oder nur aus der Windschutzscheiben-Perspektive wahrnimmt, die Straßenbahn ist prägendes Element des Wiener Stadtbildes. Und ganz gleich, ob man Busse für technisch und wirtschaftlich überlegen halten möchte und U-Bahnen für moderner erklären will, die Tram bleibt ein die Stadt strukturierendes Faktum. Denn sie ist, dank ihrer im Straßenraum verlegten Gleise und der Oberleitungsgeflechte, auch dann noch präsent, wenn sie gerade nicht fährt.

Die Metro nehmen wir nur dort wahr, wo Menschenmassen mittels Rolltreppen in Löchern von der Oberfläche verschwinden. Sehr ähnlich auch der Autobus, dessen Weg im Raum unbestimmt bleibt, solange das Fahrzeug selbst unsichtbar ist, weil keine Infrastruktur seinen Weg vorzeichnet, und nur die Haltestellen daran erinnern, dass es dieses Verkehrsmittel überhaupt gibt. Die Straßenbahn strukturiert den öffentlichen Stadtraum, und mehr noch: Sie belebt ihn, weil ihre technischen Einrichtungen ständig darauf aufmerksam machen, dass die nächste Bahn kommen wird. Irgendwann. Und schon allein dieses Wissen im Kopf verleiht dem Straßenraum ein urbanes Gepräge, weil die Schienen auf Bewegung verweisen, auf Ankommen und Abfahren, selbst dann, wenn weit und breit keine Tram in Sicht ist. Wo wir fahren, lebt Zürich, lautet ein kesser Slogan der Zürcher Verkehrsbetriebe, deren Hauptstütze ein dichtes, hochmodernes Straßenbahnnetz bildet. Und wirklich: Dort wo sich zwei oder mehr Straßenbahnlinien kreuzen, herrscht dynamisches Treiben. Von morgens früh bis abends spät. In Los Angeles, wo man nach dem Zweiten Weltkrieg das größte Straßenbahnnetz der Welt Stück für Stück stillgelegt hat, verkehren seit einigen Jahren wieder Bahnen im Straßenraum. Und siehe da, dort wo sich zuvor nur Autos bewegt hatten, kreuzen sich jetzt wieder die Wege von Menschen - auf dem Weg zur Haltestelle oder von dieser weg zu anderen Zielen. Und mehr noch: Die Renaissance der Straßenbahn führte dazu, dass hier die Kriminalität in den Schienen-straßen zurückging, einzig deshalb, weil das Da-Sein des eisernen Weges die Boulevards mit Leben füllte. Eine Vitalisierung, die offenbar kein noch so starker Autoverkehr und keine Buslinien erzielen konnten.

Wiederbelebung alter Netze

Doch nicht nur die Welthauptstadt des motorisierten Individualverkehrs setzt auf die Wiederkehr der Tram: Auch in Paris, wo Jahrzehnte lang kein Gleis auf den Straßen verlief, vernetzt man periphere Bereiche mit neuen Straßenbahnen. Le tramway et la ville est plus belle, heißt das Motto, unter dem in Straßburg eine hypermoderne Straßenbahn ihren Wiedereinzug in den Stadtraum feierte, und mit der Verlängerung der Zwanzig in den Wedding erhielt auch Westberlin wieder einen Tramwayanschluss. In San Francisco, wo vor einigen Jahrzehnten eine Bürgerinitiative die Stillegung der letzten Cable Cars verhindert hat, verbinden seit kurzem wieder herrlich nostalgische Street Cars das touristische Zentrum Fishermen's Wharf mit Downtown und dem bunten Stadtteil Castro. Die Fahrzeuge aus den vierziger und fünfziger Jahren hatte man zuvor aus den ganzen USA zusammengetragen und aufwendig restauriert.

Eigentlich schade, dass dergleichen nicht auf der Mariahilfer Straße verkehrt, denn urbanes Straßenleben und Tramway bilden ganz offensichtlich eine Symbiose, die mit Bussen, S- und U-Bahnen nicht erreicht werden kann. Kein anderes öffentliches Stadtverkehrsmittel kann, was die Straßenbahn zu leisten vermag: Sie ist leichter zu handhaben und einfacher zugänglich als S-Bahn oder Metro. Sie verkehrt an der Oberfläche, was die Orientierung vereinfacht und das Window-Shopping während der Fahrt ermöglicht. Sie hat kurze Haltestellenabstände, was die Feinverteilung der Verkehrsströme begünstigt, fährt ruhiger und komfortabler als der Autobus und macht die Straße zum Erlebnisraum. Dass sie überdies schneller und billiger zu bauen ist als die Untergrund-Bahnen, macht sie für viele Städte zu einer überzeugenden Alternative zur Metro. Dass in Wien auch heute noch U-Bahn-Linien als Ersatz für Straßenbahnstrecken geplant werden, ist von den Aktivisten der Fahrgast- und Verkehrsinitiativen immer wieder kritisiert worden. Nicht zuletzt ermöglicht doch ein dichtes Netz von Schienenwegen an der Oberfläche eine flexible Reaktion bei geänderten Verkehrsströmen zur Zeit von Großveranstaltungen oder angesichts von Betriebsstörungen. Letztere freilich werden vor allem von jenen hervorgerufen, die glauben, ihre Mobilitätsbedürfnisse auch in der Stadt nur mit Hilfe individueller Kutschen erfüllen zu können und dann allzu oft der Tram im Wege stehen.

Eine bewegte Geschichte

Angekommen war die elektrische Straßenbahn in Wien mit Verspätung, denn Budapest und Prag, ja selbst das periphere Lemberg und das ländliche Gmunden hatten den elektrischen Straßenbahnbetrieb vor der Reichshauptstadt aufgenommen. Ganz offensichtlich war weder das Management der Wiener Pferdetramway noch jenes der Dampfstraßenbahnen technischen Innovationen gegenüber aufgeschlossen, so dass es noch bis 1897 dauern sollte, bis Wiens erste saubere, das heißt weder Pferdeäpfel noch Ruß erzeugende Tramway auf die Schienen kam. Ein Massenverkehrsmittel war die Straßenbahn jedoch noch lange nicht, denn ihre Fahrpreise waren für die Arbeiterschaft schlichtweg zu hoch angesetzt gewesen.

Zu teuer für ein Massenverkehrsmittel war freilich auch die zwischen 1898 und 1901 in Betrieb genommene, nach den Entwürfen von Otto Wagner erbaute Dampf-stadtbahn, welche als urbanes Schnellverkehrsmittel den Weg zur unbegrenzten Großstadt weisen sollte. Die Arbeiterschaft marschierte weiterhin per pedes in die Fabriken. Tramway und Stadtbahn blieben den finanziell potenteren Bevölkerungsschichten vorbehalten. Dies sollte sich erst ändern, als sich die politischen Mehrheitsverhältnisse in der Stadt nach dem Ersten Weltkrieg wandelten und das Rote Wien den Zugang zu den öffentlichen Verkehrsmitteln mit Hilfe großzügiger Tarifsenkungen demokratisierte. Zu dieser Zeit gelangte die Wiener Straßenbahn zu ihrer eigentlichen Blüte. Bis zum Jahre 1922 waren alle Pferde- und Dampfstraßenbahnen auf elektrischen Betrieb umgestellt, und 1929 war mit 3.500 Fahrzeugen der höchste Wagenbestand der Wiener Tramway erreicht worden. Ein Netzwerk von fast dreihundert Kilometern wurde durch den Stadtraum geknüpft und ein ausgeklügeltes System von Rundlinien (Nummern 1 bis 18), Radiallinien (Nummern 21 bis 82), Durchgangsstrecken (Buchstaben A bis Z) und peripheren Anschlüssen (Nummern über 100) ermöglichte ein umsteigearmes und bequemes Fahren kreuz und quer durch die Stadt. Der rührige Straßenbahn-Direktor Ludwig Spängler hatte sich zum Ziel gesetzt, dass jeder Punkt innerhalb der dichten Bebauung mit der Straßenbahn ohne Umsteigen zu erreichen sein sollte. Angesichts heutiger Verhältnisse für viele Fahrgäste ein frommer Wunsch...

Natürlich hatte man auf politischer und stadtplanerischer Ebene zu diesem Zeitpunkt längst auch über großzügige U-Bahn-Projekte diskutiert. Die sozialdemokratische Stadtführung jedoch gab dem Wohnbau gegenüber der Erweiterung einer leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur den Vorzug, so dass die Elektrifizierung der Stadtbahn (Mitte der zwanziger Jahre) für lange Zeit der einzige Schritt in diese Richtung sein sollte.

Das zentrale öffentliche Verkehrsmittel blieb die Straßenbahn auch noch lange Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: Abermals wurden U-Bahn-Pläne, der hohen Investitionskosten wegen, auf die lange Bank geschoben. Erst als der massenhafte Individualverkehr die Stadt in seine Gewalt gebracht hatte, wandelte sich die Einstellung gegenüber der Straßenbahn, die man jetzt vor allem als Hindernis auf dem freeway zur autogerechten Stadt betrachtete. Dem Auto die Straße, dem öffentlichen Verkehr der Untergrund und der Autobus, so ließe sich die gängige Planungsphilosophie der späten sechziger und siebziger Jahre auf den Punkt bringen. Doch schon 1977 hatte man aus Fehlern gelernt, wie man dem "Kurier" entnehmen konnte: "Vor 16 Jahren, als die rumplige Straßenbahnlinie 13 auf Autobusbetrieb umgestellt wurde, da gab's ein großes Volksfest, a schöne Leich, wie man hierzulande zu sagen pflegt: Platzkonzert, Freibier, Würstel, ein Riesen-Trara. Die schöne Leich hätte man sich sparen können. Die Umstellung der Straßenbahn auf Autobus war unwirtschaftlich. Denn: Die Tramway zuckelte damals mit durchschnittlich elf Stundenkilometern durch die verwinkelten Gassen. Heute zwängen sich Doppelstockbusse durch verstopfte und verparkte Straßenzüge. Mittlere Reisegeschwindigkeit: 13 Stundenkilometer..."

23 Jahre später hat sich daran nichts Wesentliches verändert. Was wir indessen gelernt haben, ist, dass der Verzicht auf die Straßenbahn mit schmerzhaften Nachteilen verbunden ist, und das nicht nur für hoffnungslose Schienennostalgiker! Dort, wo Straßenbahnlinien eingestellt wurden, wurde zugleich das durchaus zweckmäßige und der Stadtstruktur angepasste Netzwerk zerschnitten und die Notwendigkeit zu zeitaufwendigem Umsteigen geschaffen. Zeitvorteile, die durch die schnelle U-Bahn gewonnen werden, gehen so allzu oft wieder verloren. Vom Treppensteigen und Tunnel-Dauerläufen gar nicht zu reden. Doch der Konsequenzen sind noch mehr: Dort, wo die Straßenbahn von der Bildfläche verschwindet und die Verkehrsströme in die Metro-Schächte gelenkt werden, stirbt ein Stück urbanen Lebens.

Die Straßenbahn bahnt an

Nach der Stilllegung des Achters, der in der zur Fußgängerzone erklärten Meidlinger Hauptstraße die Szene bis 1989 beherrscht hatte, beklagten die Geschäftsleute dieses Straßenabschnitts lautstark den Rückgang ihrer Umsätze und die Abwanderung ihrer Stammkunden. Man hätte es besser wissen können, schrieb doch die Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur- und Architektenvereines schon 1921: "Der Kaufmann weiß die Vorteile wohl zu schätzen, die sich für ihn daraus ergeben, dass sein Geschäft in einer Straße liegt, die von der Straßenbahn durchzogen wird (...). Schon die Fahrt mit der Straßenbahn ist geeignet, den Kontakt zwischen dem Käufer und dem Kaufmann anzubahnen."

Doch es bedarf gar nicht der merkantil ausgerichteten Argumentationslinie, um zu erkennen, dass die Straßenbahn dem Stadterlebnis zuträglicher ist als andere Verkehrsmittel. Wer mit ihr unterwegs ist, flaniert schon vor dem Aussteigen, wirft den Blick auf Warenangebote, Straßenszenen und Alltagsleben, entscheidet spontan, wohin der Weg weiterführen soll und verabschiedet sich mit einem langen Blick zurück von der letzten Station seiner Exkursion. Wer zu Fuß in einer Straßenbahnstraße unterwegs ist, hat stets die Sicherheit, dass der nächste Zug kommen wird, dass der Anschluss gegeben ist.

Aufschluss über interessante Aspekte der Wiener Verkehrsgeschichte geben die Bücher: Hans Peter Pawlik/Josef Otto Slezak: Ring Rund. Das Jahrhundert der elektrischen Straßenbahn in Wien. Wien 1999. Hans Peter Pawlik/Josef Otto Slezak: Wagners Werk für Wien. Gesamtkunstwerk Stadtbahn. Wien 1999.

Die Tarife der Wiener Linien (Wiener Zeitung)