In den 20er Jahren hat die Wiener Straßenbahn ihren Zenit erreicht. Der Ausschnitt aus einem Netzplan von 1922 zeigt die Vielfalt der Linien, allerdings auch das Ungleichgewicht zwischen dem extrem dichten Straßenbahnnetz in den inneren Bezirken und der völlig fehlenden Erschließung der Innenstadt. Über 3000 Wagen sind auf den Linien unterwegs und befördern eine Personenzahl, die danach nur während weniger Monate nach dem Zweiten Weltkrieg übertroffen wurde.
Die Elektrifizierung der Stadtbahn
Der ständig ansteigende Verkehr führte zur teilweisen Übernahme der brachliegenden Stadtbahn, wobei leider die Möglichkeit vergeben wurde, alle Stadtstrecken einzubeziehen. Auf diese Weise entstand ein unglücklicher Torso: Es wurde unmöglich, durchgehende Züge ins Umland zu führen; andererseits wurden nur die Wiental-, Gürtel- und Donaukanallinie übernommen.
Alte Bilder aus der Jahrhundertwende zeigen noch Dampfzüge mit Zielen weit ausserhalb der Wiener Stadtgrenzen im Netz der heutigen U-Bahnlinien (rechts ein Zug nach Rekawinkel am Gürtel); durch eine lange Kette von vor allem politischen Fehlentscheidungen wurden hier Barrieren geschaffen, die auch heute noch den Verkehrswert dieser Strecken stark mindern. Die damalige Entscheidung liegt auch im Konflikt zwischen dem politisch roten Wien und dem schwarzen Bund.
Die Fehlentscheidung besteht eigentlich aus zwei Teilen: Man entschied, straßenbahnmäßige Wagen für den Betrieb der ursprünglich nur gepachteten Strecken einzusetzen - und man konstruierte zwar prinzipiell gelungene, aber konzeptuell veraltete Zweiachser. Dies stand nicht nur unter dem Eindruck der Misserfolge der davor gebauten Vierachser; die Gründe sind in einer allgemeinen, aber auch technischen Orientierung nach Deutschland zu sehen. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie und dem Wegfall der Kronländer definierte sich Restösterreich als Teil des Deutschen Reiches. Auch wenn der gewünschte Anschluss nicht vollzogen werden durfte, war Deutschland in allen Bereichen Vorbild.
Zwischen der Beschaffung der großen Bauserien der Jahrhundertwende und der aktuellen Neuentwicklung liegen etwa 25 Jahre, die im Ausland durchaus große Fortschritte im Wagenbau gebracht hatten. In Italien wurden unter amerikanischem Einfluss Fahrzeuge gebaut, die so gelungen waren, dass sie noch heute fast unverändert unterwegs sind, während in Deutschland bis in die Nachkriegszeit am Konzept des Dreiwagenzuges festgehalten wurde.
Dass allerdings auch den Verantwortlichen bei der Entscheidung für Zweiachser nicht ganz wohl gewesen sein dürfte, beweisen einerseits stattgefundene Fahrversuche mit den modernen Badnerbahn-Wagen, andererseits nie gebaute Entwürfe für vierachsige Tramwaywagen Type M3/M4 mit 5 bzw 6 Fenstern.
Dieses konsequente Festhalten am Kleinbahnbetrieb mit Übergangsmöglichkeiten zwischen Stadt- und Straßenbahn ist wohl auch in Zusammenhang mit den Konzepten der innerstädtischen Tramwayquerungen zu sehen, scheinbar schwebte den Verantwortlichen ein vollkompatibles Mischsystem von Straßen- und Tunnelbahnen vor - eigentlich eine Vorwegnahme des heute in Deutschland sehr erfolgreichen "Stadtbahnsystems". Realisiert wurde aber nur die Übergangslinie 18G von der Gürtelstadtbahn über die Tramway zum Südbahnhof. In damaligen Konzepten wird vollkommen richtig erwähnt, dass echte Stadtschnellbahnen auf die geringen Entfernungen zuwenig Vorteile brächten. Aus heutiger Sicht, auch unter dem Eindruck der mittlerweile gebauten U-Bahn, kann man dem nur beipflichten. Statt dem heute zerrissenen Netz mit etlichen inkompatiblen Betriebssystemen wäre es
wohl das klügste gewesen, die Stadtbahn vollbahnmäßig zu elektrifizieren und wieder ins Umland zu führen - und die unterirdische Innenstadtquerung zu bauen. Mit dem Umbau der Stadtbahn auf zwei verschiedene Kleinprofil-U-Bahn-Systeme 70 Jahre später wurde diese Möglichkeit für immer vertan.
Trotz der unglücklichen Stadtbahnentscheidung hatte die Stadt in dieser Zeit das Schienennetz mit dem höchsten Verkehrswert, das bis zur einsetzenden Wirtschaftskrise auf seinem absoluten Höhepunkt stand. Die Straßenbahn bewältigte Massenverkehre mit einer Vielzahl von Sonderlinien, die je nach Anlass flexibelst disponiert wurden.
Nach dem Vorbild der Stadtbahnwagen wurde die Straßenbahntype M entwickelt. Auf ein etwas leichteres Fahrgestell wurde der unveränderte Wagenkasten gesetzt. Diese 150 Wagen waren die letzte große Entwicklung für die nächsten 30 Jahre. Auch wenn in dieser Zeit noch einige Straßenbahnneubaustrecken geplant waren und es auch erneut U-Bahn-Pläne gab - verwirklicht konnte nichts mehr werden.