"Die Zukunft der Städte"

Am Beginn des 21. Jahrhunderts stehen die Städte vor einem gemeinsamen Problem. Das Konzept der autogerechten Stadt ist endgültig gescheitert, der Kampf um die öffentliche Fläche tobt nach wie vor. Das Allheilmittel der technokratischen 60er und 70er Jahre, die U-Bahn, ist unfinanzierbar geworden und hat obendrein nicht immer die erhofften Vorteile gebracht.

Trotz der schwierigen Situation gibt es erste Tendenzen, den motorisierten Stadtverkehr in den Griff zu bekommen. Noch nicht in Wien, aber in den Städten Westeuropas hat man das Problem erkannt und beginnt das Auto zurück zu drängen.

Städte in ganz Europa haben daher den öffentlichen Oberflächenverkehr auf der Schiene wiederentdeckt. Die Vorteile sind zahlreich: relativ geringe Kosten, ausreichende Transportkapazität, hohe Reisegeschwindigkeit, rasche Verfügbarkeit.

Frankreich führt derzeit die Entwicklung moderner Tramways an: Mit einer Konsequenz, die in Deutschland oder Österreich unvorstellbar wäre, werden Systeme geschaffen, die den Weg ins 21. Jahrhundert zeigen. Diese neuen Netze sind derart erfolgreich, dass man fast von einer Tramwayeuphorie sprechen kann. Die derzeit am Gebiet der Eisenbahntechnik führende Grande Nation zeigt mit ihrem gesamtheitlichen Ansatz auch im Stadtverkehr ihren absoluten Vorsprung: Mit den neuen Straßenbahnen werden nicht nur neue Verkehrsverbindungen geschaffen, sondern gleichzeitig der Autoverkehr zurückgedrängt und die Städte umfassend neu gestaltet - zum unmittelbaren Vorteil der betroffenen Bürger, deren Lebensqualität enorm verbessert wurde. In kaum einem anderen europäischen Land war der öffentliche Verkehr so abgewirtschaftet wie in Frankreich. Anfang der 1980er-Jahre gab es nur noch drei Straßenbahnstrecken im ganzen Land: In Lille hatten die beiden Linien nach Tourcoing und Roubaix überlebt, in Saint-Étienne eine Strecke durch die Stadt, und in Marseille eine kurze Linie durch einen Tunnel, der nicht mit Bussen befahren werden konnte.

Nach der ersten Ölkrise 1973/74 kam man in Frankreich zu dem Schluss, dass die Städte neue, möglichst elektrisch angetriebene Massenverkehrsmittel benötigen, um die Verkehrsprobleme und die ansteigende Luftverschmutzung in den Griff zu bekommen. Es war 1975, und es war Marcel Cavaillée, der Staatssekretär im Verkehrsministerium, der mit einem Brief das neue Zeitalter der Straßenbahn einläutete. Die großen Städte des Landes wurden aufgefordert, Konzepte für ihren Stadtverkehr zu entwickeln: Bordeaux, Grenoble, Nancy, Nizza, Rouen, Strasbourg, Toulon und Toulouse. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Cavaillée sprach von oberirdischen Schienennetzen, die Städte hatten aber teilweise andere Pläne. Trotzdem führte die Förderung zur Entwicklung von drei Projekten: In Nantes fuhr ab 1985 die erste neue Straßenbahn in Frankreich; 1987 folgte Grenoble mit dem ersten vollständig barrierefreien, niederflurigen Netz und 1992 Paris mit einer ersten tangentialen Strecke durch die nordwestlichen Vororte. Erst nach diesen erfolgreichen Referenzprojekten sprangen weitere Städte auf den Zug auf, und vor allem mit Strasbourg wurde endgültig klar, was Alain Chénard, der ehemalige Oberbürgermeister von Nantes, gemeint hatte:

"Die Straßenbahn ist die städtebauliche Idee des Jahrhunderts!"

Die neuen Züge gleiten lautlos über englischen Rasen, erreichen auf Vorortstrecken hohe Geschwindigkeiten und rollen im Schritttempo durch Fußgängerzonen. Sie sind dort, wo der Bürger sie braucht, leicht zu erreichen und billig zu errichten. Sie verknüpfen die Geschäftsstraßen mit den Außenbezirken und dem Umland, sind flexibel, langlebig und zuverlässig – und bieten eine echte Alternative zum Autoverkehr, wenn man sie richtig baut. Wie das geht und wie man es schafft, dass die Bevölkerung darauf begeistert reagiert, beweisen die inzwischen fast 30 Städte in Frankreich, die in den letzten 25 Jahren neue Straßenbahnen gebaut haben.


© 2010 Harald A. Jahn