Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Presse, 31.3.2001
TU-Wien: 30 Jahre Raumplanung
Man kann die wachsende Verkehrsbelastung, die fortschreitende Zersiedelung unserer Landschaft und das Greißlersterben als kalkulierbaren Preis für den Fortschritt, als zwangsläufige Begleiterscheinung der Modernisierung hinnehmen - und Raumplaner, die dagegen ankämpfen, als Wohlstandsfeinde und Illusionisten abtun. Man kann die Überbeanspruchung unseres Lebensraums, die Malträtierung unserer Städte und Dörfer aber auch als Produkt gesellschaftlicher Wertvorstellungen sehen - und sie auf das egoistische Verhalten des einzelnen Bürgers wie auf kurzsichtige Entscheidungen der zuständigen Politiker zurückführen.
Roland Rainer, Doyen der österreichischen Stadtplanung, beobachtet in diesem Zusammenhang ein Schwinden des individuellen Verantwortungsbewußtseins: "Vor 15 Jahren war es noch üblich, um einzelne Bäume zu kämpfen. Heute werden in aller Stille ganze Alleen weggenommen, und man fragt sich: 'Wer achtet darauf? Warum geschieht nichts dagegen?' Mir scheint, viele haben vergessen, daß sie auch selbst dafür Verantwortung tragen, was in ihrem Umfeld passiert."
Bestes Beispiel für die verbreitete Ignoranz der Problemhaftigkeit eigenen Handelns ist der Umgang mit dem Auto. Der Österreicher hält es für sein natürliches Recht, einen Pkw zu besitzen und uneingeschränkt zu nutzen. Alles, was dem im Wege steht, wird als Schikane und Eingriff in die persönliche Freiheit verstanden: Parkgebühren, Autobahnvignette, steigende Kfz-Steuern, Benzinpreiserhöhung, Road Pricing. Ja, sogar Staus und Parkplatzknappheit werden als Versagen der Verkehrsplanung und nicht als Symptome einer überzogenen Mobilität gewertet. Die Autofahrerclubs scheinen Kirchen und Gewerkschaften mittlerweile als maßgebliche Lobbies abgelöst zu haben - Politiker, die gegen den Automobilismus aufzutreten wagen, sind an einer Hand abzuzählen.
Die wirklichen Kosten der Freiheit auf vier Rädern sowie ihre weitreichenden Folgen werden hingegen kollektiv verdrängt. Ganz abgesehen von den ökologischen Schäden und der globalen Veränderung des Klimas, von der finanziellen Belastung des Sozialsystems durch Unfallopfer oder der gesundheitlichen Belastung weiter Teile der Bevölkerung durch Lärm und Abgase können Raumplaner Auswirkungen feststellen, die selbst bei einer sofortigen Änderung der Verkehrspolitik langfristig bestehen blieben.
Der ländliche Raum etwa, wo noch immer rund die Hälfte der österreichischen Bevölkerung lebt, wurde binnen weniger Jahrzehnte von einem funktionierenden Lebens-, Wirtschafts- und Sozialraum zur "Peripherie". Die örtlichen Nahversorger sind mehrheitlich verschwunden, da der wöchentliche Einkauf mit dem Kofferraum günstiger kommt als der tägliche mit dem Einkaufskorb. Die Arbeitsplätze sind ebenfalls in die Zentren abgewandert, und die Arbeitskräfte folgen ihnen bereitwillig - per Auto und staatlich unterstützt durch Pendlerpauschalen und schnellere Straßen. Wenn die meisten Dorfbewohner in der Stadt arbeiten, leidet auch die dörfliche Gesellschaft darunter. Gasthäuser schließen, die sozialen Bindungen lassen nach, und schließlich wandern die Menschen ab.
Aber auch die Stadt wurde von ihren autofahrenden Bürgern arg in Mitleidenschaft gezogen. Die öffentlichen Räume - Plätze, Straßen und Gassen - waren vor nicht allzu langer Zeit noch Aufenthalts-, Erholungs-, Spiel- und Kommunikationsorte. Heute sind sie Verkehrsflächen. Wo keine Autos fahren, stehen Autos herum. "Anstatt die Kraftfahrzeuge zu stapeln, stapelt man die Menschen", führt Verkehrsplaner Hermann Knoflacher die Perversion städtischer Flächennutzung vor Augen.
Zehn Quadratmeter Wohnfläche in einem mehrgeschoßigen Haus kosten rund 1000 Schilling (72,67 Euro) pro Monat. Zehn Quadratmeter Parkplatz zu ebener Erde sind immer noch gratis oder unvergleichlich günstig. Wenn hingegen jeder Innenhof, in dem Autos stehen, ein Park wäre und jede zweite Gasse eine begrünte Spielstraße, dann würde es an Wochenenden so gut wie keine Stadtflucht mehr geben.
Doch nicht nur die Wohn- und Freizeitqualität leidet unter dem Verkehr. Der Einzelhandel ist durch die übermächtige Konkurrenz der Einkaufszentren - die fast ausschließlich für Autofahrer erreichbar sind - im Niedergang begriffen. In Wien sterben ganze Geschäftsstraßen ab, und "konsequente" Planungspolitiker schlagen bereits vor, die zunehmend leerstehenden Erdgeschoßzonen als Garagen zu nutzen. Die Vorteile des Lebens in der Stadt schwinden also, die Nachteile nehmen zu. Immer mehr junge Familien ziehen in sogenannte Wohnbezirke, wo sie aufgrund der unzureichenden Versorgung mit Handel und Dienstleistungen, wegen des relativ schlechten Angebots an öffentlichen Verkehrsverbindungen und der bereits großen Distanz zu den Büros, Ämtern und Kultureinrichtungen der Innenstadt auf das Auto angewiesen sind. Damit steigern sie die Verkehrsbelastung, vor der sie eigentlich geflüchtet sind, nur noch weiter.
Gleichfalls als sein unverrückbares Recht erachtet es der Österreicher, ein "Häuschen im Grünen" zu errichten. Und auch hier unterstützt ihn die Politik. "Gemeindeväter" widmen Grünland in Bauland um - ungeachtet der Eignung des Standorts: Die Nähe zum Ortszentrum und zur nächsten Haltestelle des öffentlichen Verkehrs, mögliche Auswirkungen auf das Landschaftsbild oder die ökologische Sensibilität gelten selten als Kriterien, ob gebaut werden darf oder nicht. "Landesväter" wiederum gewähren den Bauwilligen Wohnbauförderungen - unabhängig von Größe und Form der Bebauung: Das freistehende Einfamilienhaus mit 200 Quadratmetern Wohnfläche und 1000 Quadratmetern Garten wird genauso unterstützt wie ein bodensparendes Reihenhaus. Die Folgen sind ein enormer Landschaftsverbrauch und immense Aufschließungskosten für die öffentliche Hand. Der Zuwachs an Bauland betrug in Österreich zwischen 1971 und 1991 bei etwa gleich bleibender Bevölkerungszahl 488 Quadratkilometer - das ist mehr als die Gesamtfläche von Wien. Umgerechnet werden im gesamten Bundesgebiet täglich 6,6 Hektar, das entspricht sechs Fußballplätzen, für Bauland in Anspruch genommen. Um diese Grundstücke zu erschließen, bedarf es Gemeindestraßen. Um sie an die nächsten Zentren anzubinden, braucht es Bezirks- und Landesstraßen. Und um diese Standorte durch den transeuropäischen Güterstrom versorgen zu können, sind schließlich Bundesstraßen, Schnellstraßen und Autobahnen vonnöten.
Was für die Straßen gilt, gilt auch für die Wasserversorgung, die Kanalisation und für sämtliche andere Leitungsnetze, die die Öffentlichkeit bezahlt: Sie müssen nicht nur errichtet, sondern auch gewartet und erneuert werden - und ihre Kosten steigen mit der Ausdehnung der Siedlungsfläche. Streusiedlungen sind also ebenso unwirtschaftlich wie breite Bauparzellen. Zudem sind aufgelockerte Strukturen mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht mehr wirtschaftlich zu erschließen. Und das Fahrrad als umweltverträglichstes Verkehrsmittel wird bei großen Distanzen unattraktiv. Somit schließt sich zwangsläufig der Kreis zum Autoverkehr... Der Wohnbauexperte Reinhard Gieselmann weist darüber hinaus auch auf die sozialen Folgen der Zersiedelung hin: "Das Einfamilienhaus ist in planerischer wie in gesellschaftlicher Hinsicht der Feind von Strukturbildung. Keine andere Bauform fördert in so extremer Weise das Auf-sich-Bezogensein der Menschen. Impulse für die Öffentlichkeit sind von Bewohnern dieser Bauform kaum zu erwarten. Das Einfamilienhaus ist oft nur Status-Symbol und am echten Bedarf vorbeigebaut - eine schlechte Voraussetzung für eine Bindung an die Gesellschaft." - Sind die Österreicher also egoistischer und rücksichtsloser als andere Nationen?
Ist die Verachtung raumplanerischer Grundsätze hierzulande größer als anderswo? Durchaus. Gemeinsam mit Deutschland zählt Österreich etwa zu den "automophilsten" Gesellschaften Europas. Dagegen ist die Wertschätzung des öffentlichen Verkehrs beziehungsweise des Fahrrads in Österreich beschämend gering.
Nirgends sind Einfamilienhäuser so protzig wie in Österreich, auch nicht in Deutschland. Dort sind die Ortschaften auch viel geschlossener als bei uns, was darin begründet ist, daß die örtliche Raumplanung auf Ebene der Land- kreise betrieben wird - anstatt von den Bürgermeistern mit all ihren Befangenheiten innerhalb der Gemeinden.
Neben dem starken Individualismus der Bürger prägt also auch die planungspolitische Kultur die räumliche Entwicklung Österreichs - nicht nur auf kommunaler Ebene. In manchem Bundesland etwa fällt Raumplanung in die Zuständigkeit des Wirtschaftslandesrats. Jenes Politikers also, der beispielsweise im Interesse der Bauwirtschaft den Schotterabbau in einer Aulandschaft befürwortet, sich im Sinne des Naturschutzes und der Naherholung aber gegen die Ausbeutung derselben Aulandschaft aussprechen müßte. Welche Argumente im Zweifelsfall stärker wiegen, liegt auf der Hand. Auf der Bundesebene zeigt sich die politische Bedeutung der Raumplanung dadurch, daß diese lediglich eine von zehn Abteilungen innerhalb einer von insgesamt fünf Sektionen des Bundeskanzleramts darstellt. Die raumplanerischen Kompetenzen des Bundes sind allerdings nicht in dieser einen Abteilung gebündelt, sondern auf mehrere Ministerien verteilt. Dazu kommen noch parteipolitische Reibungsverluste - etwa wenn ein "blauer" Bundesminister eine Maßnahme auf Antrag einer "roten" Gemeinde finanzieren soll, die von einer "schwarzen" Landesregierung zu genehmigen ist.
Raumplanung wird seitens der Politik nicht nur geringgeschätzt, sie ist häufig auch Spielball der politischen Entscheidungsträger. Denn Planung allein kostet an sich nichts, kann aber sehr viel Gewinn bringen. Ein Grundstück im Grünland im Nahbereich einer österreichischen Stadt hat einen Wert von rund 50 Schilling pro Quadratmeter. Allein durch die Umwidmung zu Bauland im Flächenwidmungsplan der Gemeinde steigt sein Wert ohne jegliche Investitionen auf etwa 1000 Schilling pro Quadratmeter. Schließt die Gemeinde das Grundstück mit öffentlichen Mitteln auf, kann der Eigentümer die Parzelle zu einem Quadratmeterpreis von 3000 Schilling verkaufen. Bei einem Bauplatz von 1000 Quadratmetern macht er ohne Zutun einen Gewinn von 2,950.000 Schilling. Um noch größere Dimensionen geht es im städtischen Raum. Der Wert eines Grundstücks, das ursprünglich für eine fünfgeschoßige Bebauung vorgesehen war, auf Drängen eines Investors aber zur Hochhausbebauung freigegeben wird, steigt durch eine Abstimmung im Gemeinderat, durch eine einzige Unterschrift, um einen dreistelligen Millionenbetrag. Da Politiker auf die Gunst ihrer Wähler und speziell auf das Wohlwollen einflußreicher Bürger angewiesen sind, ist es also nicht verwunderlich, daß Stadtentwicklungspläne und raumplanerische Programme immer wieder durch Einzelentscheidungen durchlöchert werden. Planung ist für Regierende ein sehr bequemes Instrument zur Machterhaltung - insbesondere, wenn sie für die Folgen ihrer Planungsentscheidungen nicht aufkommen müssen.
Seit 30 Jahren gibt es nun in Österreich Raumplaner, die versuchen, die Probleme unserer Siedlungen zu lösen und die künftige Entwicklung sozial ausgewogen und im Sinne einer ökonomischen wie ökologischen Nachhaltigkeit zu steuern. Die dafür erforderlichen Konzepte stünden schon lange bereit: verdichteter Flachbau statt flächenintensiver Einfamilienhäuser; Sicherung einer kleinstrukturierten Nahversorgung; Förderung des öffentlichen Verkehs als umweltverträgliche und gesamtwirtschaftlich sinnvollste Form der Mobilität; Beschränkung des Autoverkehrs auf ein notwendiges und vernünftiges Maß; wirtschaftliche Stärkung des ländlichen Raums; gemeindeübergreifende Planung im regionalen Kontext; und schließlich Bürgerbeteiligung in der Planung zur Aktivierung der Bevölkerung sowie zur Kontrolle der Politik. Allein, es fehlt am politischen Mut zur Umsetzung und krankt an der Scheu der Bevölkerung vor unbequemen Veränderungen. Daß ein Wandel dennoch immer drängender wird, ruft Roland Rainer mit über 90 Jahren noch einmal nachdrücklich ins Bewußtsein, wenn er festhält: "Es gibt in der Wiener Stadtverwaltung ein Referat mit der Bezeichnung 'Planung und Zukunft'. Der Gedanke, der darin steckt, müßte auch wirklich realisiert werden. Denn zu Planung und Zukunft gehört vor allem auch das Denken über die Folgen, auch über die negativen Folgen dessen, was wir tun. Es geht nicht nur darum, was wir in Zukunft alles machen werden, sondern auch darum, was wir an Zukunft schon alles zerstört haben. Und das ist nicht wenig."